Aus der Schreibwerkstatt-Anthologie "Familie" (2018)

Sippentreffen 1

Stammbaumgewucher

Flechten und Moose

Austrieb aus

Schlafenden Augen,

luftiges Blütengezweig.

Schützender Schatten

würgende Wurzeln

Rhythmus von Wachsen und Welken.

Heimat jenseits des Raums.

Heimat aus Zeit.

Sippentreffen 2

Wir kennen uns kaum. 

Wieso bist du „du“

und nicht „Sie“ und nicht

„Sehr Geehrter“? 

Warum

sprichst du mit mir

als sei ich ein Mensch

und hörst doch nicht zu?

Auch das ist

Familie?

Sonntagmorgen

Dein Strahlen, Lini,

als heute morgen

dein Tablett mit deinem

Obstsalat – 

alles

selbst

gemacht! – 

dich hereintrug.

Putztag im Wald

Mit Säcken und Greifern

die Kinder voran

durch Brennesselwildnis:

Die Welt

ein Abenteuer wie früher.

Glänzende Flecken

von Caprisonne im Unterholz

und dort

unterm Weißdorn am Parkplatz:

Ein Nest von winzigen Fläschchen.

Sind’s fünfzig, sind’s hundert?

So viel Bommerlunder!

Fernfahrer-Gelege.

Mein Wolkenkind

Wolkenkind, Nebelkind, Luftkind,

leicht

und hell: 

Ich steh wie die Kiefer am Hang

und suche

mit rettenden Ästen zu halten

was doch

zieht und sich selbst seine Form sucht

im Wind

Für eine Freundin und ein Pflegekind

Schwester, die nicht

meine Schwester ist: 

Nein,

denselben Vater

haben wir nicht, 

doch 

wir waren

zusammen, als er

starb und wir hielten

einander fest.

Tochter, die nicht

meine Tochter ist: 

Nein,

in meinem Bauch warst du nicht, 

und doch

bin ich bei dir am Abend,

jeden Abend 

im Dunkeln und halte

dich fest.

 

Spielgefährte

 

Ob du einst mein Bruder warst in einem frühern Leben,

Freund, das weiß ich wirklich nicht, jedoch zum Glück in diesem

kletterst du mit mir auf all die hohen Spielplatzbäume

und du wippst mit mir, wo ich

bisher

alleine

saß.

 

 

 

 

Ruth Finckh: Tacitus

Es war ein großer, geflochtener Korb, den mir meine Mutter an einem sonnigen Vormittag brachte. Ich war allein zu Hause, Mann und Kinder waren unterwegs, und ich fühlte mich ein wenig von dem Besuch überrumpelt. Er kam überraschend, obwohl ich im Grunde mit einem Abschiedstreffen gerechnet hatte. Denn eine lang erwartete Reise stand bevor; mein Vater war bereits vorausgefahren. Meine Mutter hatte alle notwendigen Maßnahmen für eine längere Abwesenheit getroffen – die Zeitung abbestellt, das Telefon abgemeldet (ein Handy besaß sie nicht) und den Garten einem professionellen Gärtner übergeben. Und nun stand sie mit diesem riesigen Korb vor meiner Tür. In seinem Inneren raschelte und ruckte es verdächtig. Hatten sich meine Eltern etwa noch kurz vor der Abreise einen Hund zugelegt? Manchmal hatte ich in letzter Zeit leise Anzeichen von geistiger Verwirrung bei ihnen zu entdecken geglaubt. Aber da sie noch wortkarger geworden waren als früher, wusste ich kaum etwas über ihren Alltag.

„Was ist das, Mama?“, stammelte ich unsicher. „Er heißt Tacitus.“, antwortete meine Mutter ruhig und fuhr zu meiner Verblüffung fort: „Du kennst ihn doch. Er hat schon immer bei uns gewohnt. Nun können dein Vater und ich uns nicht mehr um ihn kümmern und du musst ihn in deine Familie aufnehmen. So einfach ist das.“ Mit einer flüchtigen Umarmung wandte sie sich ab, stieg in ihren Wagen und fuhr davon.

Mir stockte der Atem. Ich fühlte mich geehrt, einerseits. Ein Familienerbe, von dem ich bisher nichts gewusst hatte, wurde mir anvertraut. Bei näherem Betrachten hatte der Korb tatsächlich etwas Kostbares an sich. Er sah schlicht aus, war aber sorgfältig geflochten, aus dunkelbraun gefärbter Weide. Die Seitenflächen waren mit geometrischen Mustern verziert, den Deckel hielten breite Lederbänder mit festen Schnallen. Ein edles Stück, das sicher noch Generationen überdauern würde.

Andererseits: Wer sagte mir, dass das Wesen in diesem Korb es gut mit mir meinte? Wie hatte meine Mutter sich die Pflege von Tacitus vorgestellt? Was würde meine Familie zu dem neuen Mitbewohner sagen, der da so unversehens ins Haus kam? Sollte ich nachsehen, um mir selbst ein Bild zu machen? Misstrauisch betrachtete ich den Korb. Das Rascheln darin blieb leise, doch es stammte unverkennbar von einer ziemlich kräftigen Kreatur. Ein seltsamer, leicht stechend-metallischer Geruch stieg mir in die Nase.

Nein, den Deckel einfach zu öffnen kam nicht in Frage. Ich musste mich erst informieren. Vielleicht gab der Name etwas her? Doch Google war wenig hilfreich. „Publius Cornelius Tacitus. 58-120 n.Chr. Bedeutender römischer Historiker. Die Namenswurzel basiert auf dem lateinischen Wort tacere, dt. schweigen.“

Für römische Geschichte hatten sich meine Eltern, soweit ich mich erinnern konnte, niemals interessiert. Gab es noch andere Spuren, die ich verfolgen konnte? Mir fiel nichts ein, und so hatte ich keine Wahl als auf den Rest der Familie zu warten. Ereignislose Stunden vergingen; die Geräusche im Korb verstummten und der seltsame Geruch verflog, doch meine Unruhe wuchs. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass ein kleiner Blick unter den Deckel nicht schaden konnte. Vorsichtig öffnete ich die Schnallen und hob die schwere Abdeckung an. Fast hätte ich sie vor Überraschung gleich wieder fallen lassen. Denn der Korb war leer. Das Ruckeln und Rascheln zu Anfang war, so schien es mir nun, ein Produkt meiner Phantasie gewesen. Erleichtert öffnete ich den Deckel ganz. Das helle Licht der Wohnzimmerlampe fiel in jeden Winkel. Kein Zweifel: Tacitus war ein Phantom.

Ohne recht zu wissen, warum, packte ich nun den Korb am Rand, kippte ihn ein wenig an und schleppte ihn in die Abstellkammer, wo ich ihn mit alten Decken und ausgemusterten Handtüchern bedeckte. Ein Bedürfnis nach Geheimhaltung breitete sich in mir aus. Niemand brauchte etwas von dem Besuch meiner Mutter oder von dem eigenartigen Erbstück zu erfahren, fand ich. Diskretion und Zurückhaltung waren Tugenden, die ich bisher vielleicht unterschätzt hatte.

Wenig später kehrte meine Familie nach Hause zurück, erschöpft und wortkarg nach einem langen Schul- und Arbeitstag. Niemand fragte, womit ich die letzten Stunden verbracht hatte, und das war mir auch ganz recht so. Die nächsten Wochen vergingen, der Alltag nahm uns in Anspruch, und so dauerte es lange, bis ich die Veränderung bemerkte. Zuerst fiel mir das Ticken der alten Pendeluhr im Wohnzimmer auf. Es wurde immer leiser und leiser, bekam einen dumpfen, erstickten Klang und hörte schließlich ganz auf, obwohl das Uhrwerk tadellos weiterlief. Ich fragte einen Uhrmacher um Rat, doch der konnte keinen Fehler entdecken. Dann stellte ich fest, dass die alte Holztreppe ins Obergeschoss keinen Laut mehr von sich gab, obwohl doch ihre dritte und siebte Stufe bisher immer jämmerlich geknarrt hatten, sodass man sich in acht nehmen musste, wenn man nachts hinunter zum Kühlschrank schleichen wollte. Diese neue Stille war eigentlich ein recht angenehmer Effekt; er beunruhigte mich aber zugleich ein wenig. Doch ich behielt meine Beobachtungen für mich, um keine unliebsamen Fragen auszulösen. Darum allerdings brauchte ich mir ohnehin keine Sorgen zu machen. Meine dreizehnjährige Tochter, die schon bisher wenig mitteilsam gewesen war, verschwand neuerdings direkt nach der Schule in ihrem Zimmer, den Blick auf den Handybildschirm gesenkt, und tauchte, wenn überhaupt, erst zum Abendessen wieder auf. Selbst ihr kleiner Bruder, der auf der Straße und im Garten eine richtige Plaudertasche war, verstummte nun, sobald er das Haus betrat, flezte sich aufs Sofa und beschäftigte sich mit Harry-Potter-Büchern und Fußballstickern. Mein Mann, von der Arbeit gestresst, verschanzte sich stundenlang hinter den großflächig ausgebreiteten Seiten der ZEIT und stand für Familiengespräche nicht mehr zur Verfügung. Die Veränderung ging so schleichend vor sich, dass ich unsicher wurde und mich fragte, ob dieser Zustand vielleicht schon immer, von mir unbemerkt, geherrscht hatte. Ich fühlte mich bedrückt, beklommen, vom Schweigen eingekesselt. Doch ich fand keine Lösung. Bis ich eines Nachts nach einer unruhigen Wachphase endlich wieder einschlief.

Ich ging im Traum die Treppe hinunter – die dritte und siebte Stufe gaben wieder ihr anheimelndes Knarren von sich. Ich durchquerte den Flur und steuerte auf die Abstellkammer zu. Doch statt vor der abgewetzten Holztür stand ich vor einem trüben Spiegel mit geometrischen Mustern am Rand, der mir unscharf meine eigene Gestalt im Schlafanzug zeigte. Wenn ich in die Kammer hineinwollte – und ich musste in die Kammer hinein, das war mir im Traum ganz deutlich – dann blieb mir nichts übrig, als die Scheibe zu zerschlagen. Entschlossen holte ich einen großen Kochtopf aus der Küche, packte ihn am Griff und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen den Spiegel. Das Geräusch berstenden Glases weckte meine Familie. Alle kamen herbeigerannt, stellten sich hinter mich, spiegelten sich schweigend in den übriggebliebenen Scherben. Gemeinsam betraten wir den Abstellraum („Die Kammer des Schreckens“, flüsterte mein Sohn) und öffneten den Korb. Feindselig starrte uns ein struppiges, dunkelgraues Wesen entgegen, das ich sofort erkannte: Tacitus. Außer gelben, kalten Augen war von seinem Gesicht nichts zu erkennen und auch der Rest des Körpers verschwand im Dunkel. Aber offenbar hatte er eine Kehle und kräftige Gliedmaßen. Mit einem giftigen Knurren sprang er an uns vorbei und durch den zerschlagenen Spiegel ins Haus hinein.

Ich erwachte mit rasendem Puls und rüttelte meinen Mann an der Schulter. Doch der brummte nur gereizt „Lass das, bin müde!“ und schob meine Hand weg. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, vor einer Wahl zu stehen. Jetzt oder nie konnte ich von dem Besuch meiner Mutter und von der seltsamen Erbschaft erzählen. Doch es gelang mir nicht. Ich ließ meinen Mann in Ruhe und hörte seinem Atem zu, der wieder ruhiger wurde, während ich schlaflos aus dem Fenster sah.

Von da an drang Tacitus in unsere Wirklichkeit ein. Immer öfter tauchte er auf, wenn die Familie vor dem Fernseher saß oder am Mittagstisch, grau und struppig wie in meinem Traum. Er schlich lautlos heran, setzte sich zwischen uns und starrte ausdruckslos von einem zum anderen. Sein metallischer Geruch verbreitete eine seltsame Müdigkeit. Am Anfang versuchte ich trotzdem noch, ihn zu verscheuchen. Ich schrie ihn an, fuchtelte mit den Armen und machte meinen Mann und die Kinder auf den ungebetenen Gast aufmerksam. Doch sie zuckten nur die Achseln, niemand schien sich über ihn zu wundern oder sich an seiner Anwesenheit zu stören. Also ließ ich ihn eben gewähren. 

Doch vielleicht war das ein Fehler. Denn seit einigen Wochen hat sich sein Verhalten verändert. Zuerst hat er nur die Nudeln vom Teller meiner Tochter gefressen, was die sich mit ungewohnter Demut gefallen ließ. Sie habe ohnehin keinen Appetit, meinte sie. Dann begann er, bereits in der Küche die vorbereiteten Töpfe zu leeren und im Garten die Rosenblüten abzubeißen. Bunte Vorhänge und Teppiche frisst er ebenfalls. Alles, was fröhlich aussieht, glänzt oder duftet, scheint ihm zu schmecken. Unser Haus wird zusehends leerer und grauer.

Gestern ist meine Tochter nicht von der Schule nach Hause gekommen – ich kann es ihr nicht verdenken. Eigentlich hätte ich herumtelefonieren und nach ihr suchen müssen, aber meine wachsende Erschöpfung lässt mir kaum Kraft. Die Stimme meines Sohnes, der hinausgegangen ist, um mit seinen Freunden Fußball zu spielen, habe ich auch schon seit Stunden nicht mehr gehört. Und ob mein Mann irgendwann von der Arbeit heimkommt, weiß ich nicht. Aber Tacitus – der ist bei mir, o ja. Struppig, grau und reglos sitzt er seit heute morgen zwischen mir und der Ausgangstür. Er wird mich nicht gehen lassen. Er wartet, dass ich aufgebe und verstumme. Aber noch bin ich nicht besiegt. Ich habe meinen Laptop geholt und schreibe diese Zeilen. Solange ich schreibe, bin ich in Sicherheit. Denn irgendjemand wird meine Worte einmal lesen und