Anthologie "Begegnungen mit der Natur"
Mittsommer – Mittwinter
Natürlich ist es dieselbe Magie. Überrascht euch das etwa? Wir kommen und wir gehen, im Rhythmus von Mond und Sonne. Wir schaukeln, wisst ihr? Wir schaukeln.
Wir schwingen uns von Ast zu Ast mit den jungen Amseln. Wir ziehen über den Abendhimmel, wenn nachts um zehn noch die Grillgäste feiern. Wir leuchten euch heim mit den Glühwürmchen und duften euch einen Rausch an mit Geißblatt und Linden. Das ist die Sommermagie.
Unsere Kraft schwindet, je ähnlicher Tag- und Nachtlänge werden. Aber dann, ab dem Spätherbst, kehrt sie zurück. Dann schwingen wir zwischen den Straßenlaternen. Wir ziehen als zarte, kühle Schneeschauer über den Weihnachtsmarkt. Wir leuchten mit den Lichterketten und duften euch einen Rausch an mit Zimt und Koriander. Die Wintermagie.
Wir schaukeln, Kinder, wir schaukeln. Und das überrascht euch?
Macht des Sommers
Mauersegler, gelbe Rosen
Wolkenzug in grauen, losen
Fetzen überm weiten Land:
Juni hat uns in der Hand.
Erdbeerrausch und Nebelmorgen,
Frucht im dichten Laub verborgen,
grün noch, aber rund und prall:
Sommersiege überall.
Meine Hände
Heute sind sie mir davongelaufen, einfach so. Ich hatte keine Ahnung, dass sie die Macht hatten, sich von mir zu lösen, und die Erlaubnis hatten sie natürlich sowieso nicht. Aber sie haben es trotzdem getan.
Da saß ich nun mit zwei ratlosen Ärmeln, die am Saum in irgendeinem Nebel verschwammen, und musste mit ansehen, wie meine Hände – klein, aber kräftig und braungebrannt – als fünfbeinige Energiebündel durchs Zimmer krabbelten. Die kurzen Nägel kratzten auf dem Fußboden, doch die beiden, einträchtig nebeneinander herlaufend wie Schlittenhunde, hielten Kurs. Sie überwanden die Türschwelle und wandten sich nach links, wo meine Katze Polly in ihrem Körbchen schlief. Behutsam schlichen sie sich an, selbst katzenhaft, die Handflächen auf dem Boden, und krochen schließlich unbemerkt auf Pollys Rücken. Dort rekelten sie sich eine Weile genüsslich, und Polly begann, im Schlaf zu schnurren. Schließlich waren es meine vertrauten Hände, die sie streichelten. Dieses unverschämte Manöver machte mich wütend und eifersüchtig, denn ich sehnte mich nach dem Gefühl des weichen Katzenfells auf meiner Haut. Aber ich konnte mich nicht rühren, sondern musste alles tatenlos mit ansehen.
Als nächstes nahmen sich die Hände den großen Blumenkübel mit dem Gummibaum vor, den ich eben erst mit ihrer Hilfe gegossen hatte. Sie suhlten sich in der feuchten Erde, bis sie über und über schlammverkrustet waren. Dann kletterten sie mit schwarzen Nägeln heraus und machten sich quer über den Perserteppich auf den Weg zum Bad. Dort hörte ich sie eine Weile planschen und spritzen. Als sie zurückkamen, rosig und sauber, rollten sie sich eine Weile auf dem Teppich hin und her, um sich abzutrocknen.
Und dann – dann kamst du durch die offenstehende Tür. So lange hatte ich mich nach deiner Rückkehr gesehnt. Nun war es soweit, endlich, und ich war in dieser peinlichen Situation!
Die frechen Hände aber kannten keine Scheu. Sie krochen einfach an deinen Hosenbeinen hoch, marschierten über deine Schultern, legten sich zärtlich an dein Gesicht und streichelten dein Haar. Schließlich rannten sie dir auf beiden Seiten die Arme hinab.
Mir war das alles furchtbar unangenehm, doch du wirktest keineswegs verärgert. Ganz im Gegenteil: Der Tanz meiner wildgewordenen Hände schien dir zu gefallen. Du hast gelächelt und meinen Blick erwidert. Und auf einmal war ich wieder ganz bei mir, bei dir, und meine Hände, eins mit meinem Körper, lagen da, wo sie sein sollten: in deinen.
Gottes grüner Daumen
O viriditas digiti Dei
in qua Deus constituit plantationem,
que in excelso resplendet
ut statuta columna
tu gloriosa
in preparatione Dei.
O Grünkraft von Gottes Finger,
aus der heraus Gott eine Pflanzung anlegte
die in der Höhe erstrahlt
wie eine aufgerichtete Säule:
Du bist glorreich
als Wegbereiterin Gottes.
(Hildegard von Bingen)
Gott wanderte nachdenklich durch seinen Garten, eine verbeulte Gießkanne in der linken Hand, eine Schere in der rechten. Hinter ihm, wie immer in gebührendem Abstand, folgten die Erzengel Michael, Gabriel und Rafael. Sie besprachen im Flüsterton jeden seiner Schritte.
Gott blieb hin und wieder stehen, beschnitt einen wuchernden Spiralnebel, streichelte einen Weißen Zwerg oder ergänzte das Elementengleichgewicht durch einen Schwall aus der Gießkanne. Manchmal beugte er sich nieder und zog eine Lupe aus seinem himmlischen Gewand, um Details seiner Schöpfung genauer zu betrachten.
Nach einiger Zeit kam er in einen Winkel des Gartens, der von so gleißendem Licht erfüllt war, dass Einzelheiten vor dem Blick verschwammen und sogar die Erzengel gezwungen waren, die Augen zusammenzukneifen. Gott schob energisch einen allzu dichten Sternenhaufen auseinander und winkte Rafael herbei. „Du Sonnenwächter, hier kannst du dich nützlich machen. Übermäßige Helligkeit schadet nur, ebenso wie zu viel Schatten. Wir brauchen Wechsel und Zwielicht, um vielfältige Wesen zu schaffen, und das ist unser eigentliches Ziel, das wisst ihr ja. Wo es Zwischentöne gibt, da entsteht Mischung, dann Bewegung, und wo es die gibt, ist …“ „Leben!“, ergänzten die Erzengel im Chor und nickten einander kundig zu.
Rafael machte sich sofort ans Werk. Mit einem himmlischen Reisigbesen begann er, die Sternenhaufen zu verteilen, sodass eine pulsierende Dämmerung entstand. Die anderen Erzengel schauten ihm zu, Gabriel mit anmutig verschränkten Armen, Michael etwas missmutig auf sein Schwert gestützt. Trennen und Klären waren ihm lieber als diese Mischerei. Doch Gott war schon weitergegangen und rief ihn zu sich. „Nimm dein Schwert, mein Lieber, und lass hier ein paar Gegensätze entstehen. In dieser Suppe herrscht mir zu viel Harmonie, da wird der Funke des Bewusstseins nicht zünden“, sagte er und wies auf eine formlose Milchstraßenpfütze. Mit Begeisterung ging Michael an die Arbeit und schon bald zogen sich blitzende Grenzen durch das Gebräu.
Gemeinsam mit Gabriel, der bald wie ein lächelnder Mann aussah und bald wie ein Mädchen, wanderte Gott weiter in die Wunder seines Gartens hinein. Der erstreckte sich nicht nur in die Weite, sondern auch in die Höhe wie eine Säule und in die Tiefe der Zeit. All diese Dimensionen zählen nicht vor der Grünkraft der Schöpfung.
Gabriel durfte an Gottes Seite bleiben und seine Gedanken teilen, denn er war unter den Erzengeln derjenige, der die Gärtnerliebe am besten verstand. Es ist eine Liebe, die weder zwingt noch loslässt, sondern begleitet und lernt und darauf hofft, am Ende die Grünkraft aus dem eigenen Inneren in der äußeren Schöpfung wiederzufinden.
Gott stellte seine verbeulte Gießkanne vor einem lebhaft funkelnden Sternennebel ab und holte die Lupe heraus. Eine Stelle der Galaxie weckte seine besondere Aufmerksamkeit. Er winkte Gabriel herbei. Der sah durch die Lupe und zuckte erschrocken zurück. „Was sollen wir tun, o Herr? Die Zerstörung scheint hier kaum noch aufzuhalten!“ Gott seufzte. „Ich dachte, du könntest vielleicht helfen“, sagte er besorgt. „Täusche ich mich da? Du solltest es wenigstens noch einmal mit etwas Geduld und Gärtnerliebe versuchen. Wenn das nichts nützt, bleibt uns nichts anderes übrig, als resistentere Planeten zu züchten.“ „Resistenter gegen was?“, fragte Gabriel unruhig.
Gott senkte den Kopf. „Menschen“, murmelte er und schwieg.