Anthologie "Mit allen Sinnen"

Schokolade

Wenn sie sich weich
um meine Zunge kuschelt,
dann blühn
meine Geschmacksknospen auf
und träumen
Vanillebestäubung.

Flieder

Fliederduft, mächtig, sprang
mir in den Weg, als ich
die Treppe zum Garten
nahm.
Ja, gesehen
hatte ich purpurne Knospen, gestern
noch fest geschlossen
im Schatten der Wand.
Doch nun plötzlich
ist es soweit und der Duft,
größer als ich, fällt mich an,
packt mich am Hals und ich folge
widerstandslos sommerwärts.

Kartoffelfeuer

Kindheit hängt in der Luft:
Beißende Schwaden
Nahrhaft und herb, dieser
Geruch nach Feldern,
Herbst und Abend und
nach jungem sprachlosem Warten.
Nein.
Frag nicht, ich hab nur
Rauch in den Augen.

Winter, hör!

Winter, hör!
Ich klag dich an, Winter,
wegen Raubs; wegen Laub-Raubs,
Blumen-Raubs,
Mund-Raubs,
schamlosen Mond-Raubs.
Schrill schreckst du uns,
machst uns zu Schatten, hältst uns in Häusern
mit Eisregen, kreisenden Krähen
und schwarzer Nacktheit der frierenden Bäume, mit
kaltglänzenden Straßen
im Licht der Laternen statt
leuchtenden, warmen
Nachmittagen im Gras auf der Wiese.
Du stiehlst meinen Atem mit beißenden Winden,
lässt Düfte verschwinden,
lässt Leere zurück.

Hör, Winter!
Ich will meinen Traum mit dir teilen
von steilen
Gärten auf Felsen am südlichen Meer.
Tanzende Blüten auf silbrigen Stielen
mit vielen
winzigen Blättchen.
Ein Atem von Minze.
Im Rauschen der Brandung verschwimmende Tage.
Es ist lange,
ach Winter, du weißt es,
es ist so unsäglich lange
her.

Komm, Winter,
komm, lass uns teilen.
Ich schenk dir den Traum,
ich vergesse die Klage
und du schenkst mir Tage
voll weißem, tanzendem, schwebendem
Flaum.

Aprilabend auf dem Balkon

Glattes Holz unter den Zehen,
kühlfeuchtendes Moos.
Leuchtendes
Grün in den Birken,
Zwitscherphonie im Geäst.
Ein Rest
von Winter
sacht
in der Luft.
Die Nacht
holt ins Kalte zurück,
was der Tag
zu halten versucht
durch Wärme und Duft.

Doch während das Licht
Zug um Zug
im kahlen Kirschbaum verschwimmt,
atmet der Mai sich heran.